Als erfahrener Physiotherapeut sehe ich in meiner täglichen Praxis immer wieder Kinder, die Auffälligkeiten in ihrer muskulären Entwicklung zeigen. Dabei handelt es sich keineswegs um generelle Merkmale des Kindesalters, sondern vielmehr um individuelle Abweichungen von einer gesunden Entwicklung, die unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern. Sowohl eine abgeschwächte Muskulatur als auch muskuläre Verkürzungen können den kindlichen Körper in seiner Funktionalität einschränken und langfristig die Gesundheit und Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, diese potenziellen Befunde frühzeitig zu erkennen, ihre Ursachen zu verstehen und adäquate therapeutische Interventionen einzuleiten.
Das Phänomen der muskulären Schwäche im Kindesalter
Eine abgeschwächte Muskulatur, in der medizinischen Fachsprache als Hypotonie oder Muskelschwäche bezeichnet, ist ein Zustand, der bei Kindern in unterschiedlicher Ausprägung auftreten kann. Es ist wichtig zu betonen, dass eine gewisse muskuläre Unreife insbesondere bei sehr jungen Säuglingen durchaus physiologisch sein kann. Allerdings gibt es auch pathologische Formen der Muskelschwäche, die auf zugrunde liegende Erkrankungen hindeuten und eine umfassende diagnostische Abklärung erfordern.Man unterscheidet primär zwischen der zentralen und der peripheren Hypotonie. Die zentrale Hypotonie manifestiert sich häufig im Bereich des Rumpfes und ist oft mit frühkindlichen Hirnschädigungen oder genetischen Syndromen, wie beispielsweise dem Down-Syndrom, assoziiert. In diesen Fällen ist die Ansteuerung der Muskulatur durch das zentrale Nervensystem beeinträchtigt.
Demgegenüber steht die periphere Hypotonie, die häufig im Zusammenhang mit primären Muskelerkrankungen auftritt. Hier sind die Muskelzellen selbst in ihrer Funktion eingeschränkt, wie es beispielsweise bei der Spinalen Muskelatrophie oder verschiedenen Formen von Muskeldystrophien der Fall ist. Die genaue Differenzierung und Ursachenfindung sind hierbei essenziell für die weitere therapeutische Planung und Prognose
Der Einfluss von Bewegungsmangel auf die kindliche Muskulatur und Haltung
Neben den primären neurologischen oder muskulären Ursachen spielt in der heutigen Zeit auch der zunehmende Bewegungsmangel eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Muskelschwäche bei Kindern. Die Lebensrealität vieler Kinder ist geprägt von langen Sitzzeiten in der Schule, bei den Hausaufgaben oder vor digitalen Medien. Diese Reduktion körperlicher Aktivität führt unweigerlich zu einer Unterforderung der Muskulatur. Muskeln, die nicht regelmäßig und ausreichend beansprucht werden, neigen dazu, an Kraft und Ausdauer zu verlieren.Die Konsequenzen dieser muskulären Schwäche können vielfältig sein. Es entstehen häufig muskuläre Dysbalancen, bei denen bestimmte Muskelgruppen im Verhältnis zu ihren Gegenspielern zu schwach ausgeprägt sind. Dies kann langfristig zu Haltungsstörungen führen. Eine instabile Rumpfmuskulatur beispielsweise kann die Entwicklung einer Skoliose begünstigen oder zu chronischen Schmerzen im Bereich des Rückens und Nackens führen.
Studien belegen eindrücklich den Zusammenhang zwischen mangelnder motorischer Leistungsfähigkeit und einem erhöhten Risiko für Haltungsprobleme und Schmerzen im Kindes- und Jugendalter (Oberhoffer-Fritz et al., 2022; KiGGS-Studie RKI, 2022). Es ist daher von großer Bedeutung, frühzeitig die Bedeutung von regelmäßiger Bewegung und sportlicher Aktivität für eine gesunde muskuläre Entwicklung zu vermitteln und zu fördern.
Muskuläre Verkürzungen als Folge inadäquater Belastung
Ein weiteres häufiges Problem, dem wir in der physiotherapeutischen Praxis begegnen, sind muskuläre Verkürzungen bei Kindern. Diese entstehen, wenn ein Muskel über einen längeren Zeitraum nicht in seinem vollen Bewegungsumfang beansprucht wird. Dies kann verschiedene Ursachen haben, wobei einseitige Bewegungsmuster und anhaltende Fehlhaltungen besonders relevant sind.Bestimmte Muskelgruppen sind bei Kindern häufiger von Verkürzungen betroffen. Dazu gehört die ischiocrurale Muskulatur, also die hintere Oberschenkelmuskulatur. Langes Sitzen, insbesondere in einer gebeugten Haltung, kann dazu führen, dass diese Muskeln sich verkürzen und die Beweglichkeit im Hüftgelenk einschränken. Auch die Hüftbeuger (M. iliopsoas) neigen bei Kindern, die viel Zeit im Sitzen verbringen, zu Verkürzungen.
Dies kann wiederum die natürliche Beckenbewegung beeinträchtigen und zu einer vermehrten Lordose (Hohlkreuz) führen. Eine weitere häufig betroffene Muskelgruppe ist die Wadenmuskulatur (M. triceps surae). Kinder, die beispielsweise häufig auf Zehenspitzen laufen oder wenig barfuß gehen, können hier Verkürzungen entwickeln, die einen normalen Gangablauf behindern können.
Die Auswirkungen muskulärer Verkürzungen sind nicht zu unterschätzen. Sie führen nicht nur zu einer Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit, sondern können auch Fehlhaltungen des gesamten Körpers begünstigen. Die resultierenden muskulären Dysbalancen können orthopädische Folgeschäden nach sich ziehen, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden.
Daher ist es wichtig, im Rahmen der physiotherapeutischen Untersuchung auch auf Anzeichen von Muskelverkürzungen zu achten und gegebenenfalls dehnende und mobilisierende Maßnahmen in den Therapieplan zu integrieren.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl eine abgeschwächte Muskulatur als auch muskuläre Verkürzungen bei Kindern ernstzunehmende Befunde darstellen, die eine sorgfältige physiotherapeutische Beurteilung und Intervention erfordern.
Es ist unsere Aufgabe als Therapeuten, die individuellen Ursachen und Auswirkungen dieser muskulären Auffälligkeiten zu erkennen und durch gezielte Übungen, Haltungsinstruktionen und gegebenenfalls die Anleitung zu bewegungsfördernden Maßnahmen im Alltag die gesunde Entwicklung der Kinder bestmöglich zu unterstützen.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten, Eltern und Erziehern spielt dabei eine entscheidende Rolle, um eine umfassende und nachhaltige Betreuung zu gewährleisten.
(Pic: Valeria Ushakova Pexels)