Steigende Operationszahlen – ein Grund zur Sorge?
Statistiken zeigen seit Jahren eine Zunahme von Eingriffen an der Wirbelsäule – etwa Versteifungsoperationen oder der Einsatz künstlicher Bandscheiben. Für mich als Behandler stellt sich dabei die Frage: Spiegeln diese Zahlen tatsächlich ein gesteigertes Krankheitsaufkommen wider – oder eher eine sinkende Schwelle für operative Maßnahmen? Natürlich haben sich Operationsverfahren verbessert. Doch das allein rechtfertigt nicht, den Weg der nicht-operativen Therapie zu verkürzen.Konservative Therapie ist mehr als Schonung
Wenn von „konservativ“ die Rede ist, denken viele an Ruhigstellung, Salben oder Tabletten. In der Realität umfasst die moderne konservative Behandlung ein ganzes Spektrum aktiver Maßnahmen – und die Physiotherapie ist ein zentraler Bestandteil davon. Manuelle Therapie, aktive Stabilisationsübungen, Mobilisationstechniken, gezielte Kräftigung, Haltungsschulung und funktionelle Bewegungsprogramme tragen dazu bei, Beweglichkeit wiederherzustellen, Schmerzen zu lindern und Muskelungleichgewichte auszugleichen. Viele Patienten können damit ihre Lebensqualität zurückgewinnen – ganz ohne Skalpell.Bildgebung ersetzt keine klinische Beurteilung
Ein häufiges Problem in meiner täglichen Arbeit: Bildbefunde werden überinterpretiert. MRT-Aufnahmen zeigen Bandscheibenvorfälle, Einengungen, Verschleiß. Doch nicht jeder dieser Befunde hat Krankheitswert. Es gibt unzählige Studien, die zeigen: Auch gesunde, schmerzfreie Menschen weisen in der Bildgebung Veränderungen an der Wirbelsäule auf. Erst die Kombination aus Anamnese, klinischer Untersuchung und Funktionsanalyse ergibt ein realistisches Bild. Und genau hier setzt die physiotherapeutische Behandlungslogik an: nicht am Bild, sondern am Menschen.Die Rolle der Physiotherapie in der Entscheidungsfindung
Unser Ziel ist es nicht, Operationen zu verteufeln. Es gibt klare Indikationen – etwa bei Lähmungserscheinungen oder gravierenden Funktionsausfällen – bei denen ein chirurgischer Eingriff sinnvoll und alternativlos ist. Doch wir sehen auch viele Patienten, bei denen noch kein struktureller Schaden vorliegt oder bei denen die Symptome aus funktionellen Ursachen resultieren: Blockierungen, muskuläre Dysbalancen, Bewegungsmangel, Überlastung. Diese Menschen profitieren in der Regel hervorragend von einer gezielten Therapie – wenn man ihnen Zeit und Vertrauen in den Prozess gibt.Patientenerwartung und Lebensstil berücksichtigen
Eine Operation ist schnell beschlossen, aber nicht immer die nachhaltigste Lösung. Rückenschmerzen entstehen nicht im luftleeren Raum. Arbeitsbedingungen, Bewegungsgewohnheiten, Stress, Schlafverhalten – all das beeinflusst die Beschwerden. Die Physiotherapie geht genau hier hinein: Wir vermitteln Körperbewusstsein, fördern aktive Selbststeuerung, stärken Ressourcen. Der Patient wird nicht „repariert“, sondern befähigt, mit seinem Körper besser umzugehen. Für viele ist das langfristig der entscheidendere Schritt zur Beschwerdefreiheit als jeder Implantatwechsel.Was spricht für eine konservative Erstbehandlung?
Ganz einfach: Sie ist sicher, individuell anpassbar und in vielen Fällen ausreichend. Bei der überwiegenden Mehrheit der Patienten mit Rückenschmerzen lassen sich die Beschwerden mit strukturiertem Training, manueller Therapie, Aufklärung und gezielter Bewegung langfristig in den Griff bekommen. Operationen bergen hingegen immer ein Risiko – auch wenn es gering ist. Wenn wir es vermeiden können, ist das im Interesse aller: des Patienten, des Gesundheitssystems und unserer therapeutischen Ethik.Aus physiotherapeutischer Sicht zusammengefasst und gesprochen:
Wir brauchen in der Rückenmedizin eine stärkere Gewichtung funktioneller, aktiver und ursachenbezogener Ansätze – und weniger reflexhafte Eingriffe auf Basis eines MRT-Befunds. Die Physiotherapie ist kein „letzter Versuch vor dem OP-Termin“, sondern eine zentrale, eigenständige Disziplin mit großem Potenzial, Rückenschmerzen nachhaltig zu behandeln. Operationen haben ihren Platz – aber am besten dann, wenn der konservative Weg ausgeschöpft wurde. Und genau diesen Weg sollten wir als Team aus Ärzten, Therapeuten und Patienten gemeinsam ernst nehmen.(PIc Pixabay u_atk62mjqnp)