Es gibt Dinge, die fallen uns Therapeuten nicht gleich auf. Ein leicht veränderter Gang, eine stockende Koordination, plötzliche Unsicherheit bei Bewegungsabläufen, die vorher selbstverständlich waren. Wir nennen es dann „altersbedingt“, „unspezifisch“ oder „neuromuskulär vermindert“. Aber was, wenn diese unscheinbaren Hinweise ein Alarmsignal sind? Was, wenn Alzheimer nicht erst mit 75 beginnt, sondern mit 45 – und sein Ursprung nicht im Gehirn hat, sondern im Mund?
Parodontitis – die unsichtbare Entzündung mit Hirnfolgen
Neuere Studien zeigen: Das Bakterium Porphyromonas gingivalis, bekannt als Hauptverursacher von chronischer Parodontitis, wurde in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten gefunden. Und zwar nicht als Kollateralschaden, sondern aktiv beteiligt an der Pathologie. In Mäusen konnte P. gingivalis sogar die Bildung von Amyloid-Beta anregen – jenem Protein, das als zentraler Biomarker für Alzheimer gilt. Der Infektionsweg führt dabei über die Blut-Hirn-Schranke, die bei chronischer Entzündung durchlässiger wird.Als Physiotherapeut macht mich das hellhörig. Denn viele meiner Patientinnen und Patienten, auch deutlich unter 60, klagen über zunehmende kognitive Unschärfen. Sie vergessen Termine, wirken motorisch „unsicherer“, reagieren langsamer. Nicht besorgniserregend für einen Neurologen – aber sehr wohl spürbar im therapeutischen Alltag.
Alzheimer beginnt früher – und er beginnt still
Die medizinische Forschung ist sich zunehmend einig: Alzheimer ist keine Alterskrankheit. Es ist eine chronisch-progrediente Erkrankung, die Jahrzehnte vor der klinischen Diagnose beginnt. Während sich Familien noch wundern, dass „Oma immer vergesslicher wird“, ist der neuroinflammatorische Prozess im Gehirn oft schon seit 20 Jahren aktiv. Die neuen Erkenntnisse rund um P. gingivalis befeuern eine unbequeme, aber notwendige Diskussion: Wie früh müssen wir Prävention denken?Was hat der Mund mit dem Gehirn zu tun?
Eine ganze Menge. Die Mundhöhle ist eine Eintrittspforte für Mikroben – aber sie ist auch ein Spiegel chronischer Entzündung. Parodontitis, also die bakterielle Entzündung des Zahnhalteapparates, betrifft laut Studienlage etwa jeden zweiten Erwachsenen über 35. Sie verläuft oft schmerzfrei, aber nicht folgenlos. Die ständige Immunaktivierung führt zu systemischer Inflammation – ein Zustand, der in der modernen Altersforschung längst als Risikofaktor Nummer 1 gilt.Wenn P. gingivalis einmal in den Blutkreislauf gelangt, kann es über Schwachstellen der Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn einwandern. Dort produziert es Gingipaine – Enzyme, die Nervenzellen schädigen und die Produktion von Amyloid-Beta anstoßen. Die Folge: Eine stille, schleichende Zerstörung neuronaler Netzwerke.
Physiotherapie als Frühwarnsystem? Ja. Aber nur, wenn wir hinschauen
Die klassischen Frühzeichen einer Alzheimer-Demenz wie Wortfindungsstörungen oder Orientierungsprobleme treten spät auf. Viel früher zeigt sich das, was wir Therapeuten im Alltag oft als „komplexe Unsicherheiten“ bezeichnen: Bewegungen wirken weniger automatisiert, die Körperkoordination wird brüchig, das Gleichgewicht schwankt – ohne erklärbare orthopädische Ursache. Diese Symptome sind diffus, aber häufig. Und sie fallen genau den Berufsgruppen auf, die den Menschen regelmäßig in Bewegung beobachten: Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräfte.Inzwischen frage ich bei solchen Beobachtungen gezielt nach: Gibt es Zahnfleischbluten? Wurde kürzlich eine Parodontitis diagnostiziert oder schon lange ignoriert? Wann war der letzte Zahnarztbesuch? Die Reaktionen reichen von erstaunt bis schuldbewusst. Aber sie öffnen Gespräche – und oft auch die Bereitschaft zur Prävention.
Zahnärzte, Therapeuten und Allgemeinmediziner: Zeit für ein neues Netzwerk
Die Erkenntnisse rund um P. gingivalis fordern nicht nur die Zahnmedizin heraus – sie verlangen nach einem interdisziplinären Ansatz. Wenn Alzheimer durch bakterielle Infektionen mitverursacht werden kann, dann gehören Zahnärzte an den Tisch der Demenzforschung. Und Physiotherapeuten an den Tisch der Prävention. Wir sehen früh, was andere erst spät erkennen: funktionelle Einbußen. Und wir können gezielt Fragen stellen, die neue Wege öffnen – lange bevor das MRI auffällig wird.Alzheimer ist kein Schicksal – es ist (teilweise) vermeidbar
Natürlich entsteht Alzheimer nicht nur durch Zahnprobleme. Die Genetik spielt eine Rolle, ebenso wie Lebensstil, Schlaf, Stress, Ernährung. Aber die Idee, dass eine chronische Infektion im Mund das Gehirn Jahrzehnte später zerstören kann, ist kein Hirngespinst – sie ist wissenschaftlich belegbar. Und sie gibt uns ein Werkzeug an die Hand, das erschreckend banal ist: Zahnseide, regelmäßige Zahnarztbesuche, professionelle Zahnreinigung. Prävention beginnt nicht mit Medikamenten. Sondern mit Aufmerksamkeit.Ich bin kein Zahnarzt. Ich bin auch kein Neurologe. Ich bin Physiotherapeut – und ich sehe, was der Körper uns früh mitteilt. Parodontitis ist kein lokales Zahnproblem. Sie ist ein systemischer Risikofaktor für neurodegenerative Erkrankungen. Wer heute seine Mundgesundheit vernachlässigt, könnte morgen nicht mehr wissen, wo er seine Sportschuhe hingestellt hat. Alzheimer beginnt nicht im Alter. Es beginnt im Alltag. Und vielleicht – am Zahnfleischrand.
Studien dazu:
1. Porphyromonas gingivalis bacteremia increases the permeability of the blood-brain barrier via the Mfsd2a/Caveolin-1
2. Porphyromonas gingivalis in Alzheimer’s disease brains: Evidence for disease causation and treatment with small-molecule inhibitors
3. Chronic Oral Application of a Periodontal Pathogen Results in Brain Inflammation, Neurodegeneration and Amyloid Beta Production in Wild Type Mice
4. Olsen & Singhrao, Frontiers in Immunology (2020) Inflammation, Infection, and Alzheimer’s Disease
(Pic: Paloma Gil Pexels)