Man sieht sie überall – in Parks, auf Bürgersteigen, in Reha-Zentren oder beim Warten an der Apothekentheke. Ältere Menschen, die sich schwerfällig mit ihren Unterarmen auf den Rollator stützen, als wollten sie sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch an etwas klammern. Und tatsächlich: Der Rollator gibt vielen ein Gefühl von Sicherheit, von Kontrolle, von Autonomie. Aber diese Sicherheit ist oft trügerisch.
Denn wenn der Rollator nicht als Hilfe zum Gehen, sondern als fahrbare Stütze benutzt wird, beginnt ein physiologischer Teufelskreis. Die Beine, ohnehin oft geschwächt durch Inaktivität, Gelenkprobleme oder neurologische Erkrankungen, verlieren zunehmend ihre Funktion. Der Rollator übernimmt nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch die Aufgabe der Muskulatur – und das rächt sich. Aus therapeutischer Sicht ist dieser Fehlgebrauch nicht harmlos, sondern ein ernst zu nehmendes Mobilitätsrisiko.
Warum zu viel Abstützen gefährlich ist
Das Hauptproblem liegt in der Art der Nutzung. Anstatt mit aufrechter Haltung hinter dem Rollator zu gehen und ihn nur bei Bedarf leicht zu greifen, beugen sich viele Nutzer über das Gerät. Die Hände drücken stark auf die Griffe, die Ellenbogen sind durchgestreckt, die Schultern hochgezogen. Dabei entsteht nicht nur eine ungesunde Körperhaltung mit Kyphoseneigung und eingeschränkter Atemmechanik – es erfolgt auch eine massive Entlastung der unteren Extremität. Besonders die wichtige Oberschenkelmuskulatur (M. quadriceps femoris) wird kaum noch beansprucht, ebenso wie die Hüft- und Gesäßmuskulatur.Auch der Rumpf bleibt passiv: Die autochthone Rückenmuskulatur, die für Stabilität beim Gehen sorgen sollte, wird schlichtweg ignoriert. Das Problem dabei ist nicht nur der akute Muskelabbau, sondern die Veränderung des Bewegungsmusters. Der Blick wird gesenkt, der Körperschwerpunkt nach vorne verlagert – die Reaktion auf Stolperreize oder Hindernisse wird verzögert. Wer glaubt, mit dem Rollator sicherer unterwegs zu sein, reduziert ungewollt seine motorischen Schutzmechanismen. Der Sturz wird damit nicht unwahrscheinlicher, sondern sogar wahrscheinlicher.
Psychologische Abhängigkeit statt funktioneller Mobilität
Ein weiteres Risiko ist die psychologische Komponente. Wer sich über Monate oder gar Jahre an das Abstützen gewöhnt, verliert zunehmend das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Die Angst vor dem Sturz wird durch das Hilfsmittel nicht beseitigt, sondern konserviert. Und je mehr Angst vorhanden ist, desto weniger wird geübt. Der Rollator wird nicht zum Instrument der Wiedererlangung von Mobilität, sondern zum Symbol des Stillstands.Selbst einfache Bewegungen wie das Aufstehen vom Stuhl oder das Treppensteigen ohne Geländer werden zur Herausforderung – nicht weil die Muskulatur es nicht mehr könnte, sondern weil der Kopf es nicht mehr zulässt. Aus therapeutischer Sicht ist dies besonders tragisch, denn viele der betroffenen Menschen könnten mit gezielter Anleitung und wenig Aufwand viel mehr erreichen, als sie sich selbst zutrauen. Doch ohne Intervention manifestiert sich die Fehlhaltung, und die Spirale der Immobilität dreht sich weiter. Der Rollator wird zur selbstgebauten Sackgasse.
⸻ Foto: Pexels Rollz International