Kreatin hat sich längst vom Nischensupplement für Kraftsportler zu einer therapeutisch relevanten Substanz entwickelt. In meiner täglichen Arbeit als Physiotherapeut sehe ich regelmäßig, wie viel Potenzial in diesem einfachen Molekül steckt – nicht für den Muskelaufbau im Studio, sondern für echte funktionelle Fortschritte bei Patienten. Besonders Menschen mit Muskelschwäche, in der Reha nach Operationen, bei chronischer Erschöpfung oder altersbedingtem Muskelabbau (Sarkopenie) profitieren nachweislich von der Einnahme. Kreatin ist dabei kein Wundermittel, aber ein gezielter Energieverstärker auf Zellebene – sicher, günstig, und oft unterschätzt.
Kreatin – Zellenergie für Muskeln und Gehirn
Kreatin ist eine körpereigene Substanz, die aus den Aminosäuren Glycin, Arginin und Methionin gebildet wird. Als Kreatinphosphat speichert es kurzfristig Energie in Form von ATP und stellt diese in Phasen hoher Belastung sofort zur Verfügung – ohne Sauerstoff, ohne Verzögerung.Genau das macht es so wertvoll für Gewebe mit hohem Energiebedarf: Muskeln, Gehirn, Herz. Besonders in Zeiten von Krankheit, Immobilisation oder bei älteren Menschen, deren Mitochondrienleistung abnimmt, kann Kreatin helfen, funktionelle Reserven zu erhalten oder zurückzugewinnen. In der Praxis merke ich oft: Die Energie kommt nicht durch mehr Kalorien, sondern durch bessere zelluläre Effizienz – und genau da setzt Kreatin an.
In der Reha: Muskelabbau bremsen, Wiederaufbau fördern
Einer der häufigsten Gründe, Kreatin zu empfehlen, ist die Phase der Rehabilitation – sei es nach Operationen, Unfällen oder langen Ruhigstellungen. Jeder Tag ohne Belastung kostet Muskelmasse. Schon nach wenigen Wochen sinkt die Kraft messbar – vor allem in den Oberschenkeln und der Hüftmuskulatur.Kreatin kann diesen Prozess verlangsamen. Studien zeigen, dass Patienten mit täglicher Kreatinaufnahme (3–5 g) während der Reha weniger Muskelverlust haben und schneller Kraft zurückgewinnen. Besonders bei älteren Patienten oder solchen mit eingeschränkter Proteinzufuhr ist Kreatin ein echter therapeutischer Mehrwert. Ich kombiniere es gezielt mit leichtem Muskeltraining – denn ohne Reiz bringt auch das beste Supplement nichts.
Bei Sarkopenie: Nicht nur Muskeln, sondern Lebensqualität retten
Sarkopenie, also der altersbedingte Muskelschwund, ist einer der häufigsten, aber am wenigsten behandelten Risikofaktoren im Alter. Er führt nicht nur zu Schwäche, sondern zu Stürzen, Autonomieverlust, Pflegebedürftigkeit – oft schleichend, aber unaufhaltsam. Kreatin kann diesen Prozess abbremsen.In Studien mit Senioren zeigte sich, dass eine tägliche Gabe von Kreatin in Kombination mit Bewegung zu signifikant besseren Kraftwerten und mehr Gehfähigkeit führte. Als Therapeut sehe ich auch den psychologischen Effekt: Wer wieder selbstständig vom Stuhl aufstehen kann, wer ein paar Stufen schafft, ohne nach Luft zu ringen, gewinnt nicht nur Muskulatur zurück – sondern Würde.
Long Covid und chronische Fatigue: Wenn Energie fehlt, hilft Energiespeicherung
Besonders spannend finde ich Kreatin auch bei postviralen Erschöpfungssyndromen wie Long Covid oder ME/CFS. Diese Patienten berichten über extreme Müdigkeit, geringe Belastbarkeit, kognitive Einbußen – selbst kleinste Aktivitäten führen zu Überforderung. Die Studienlage ist noch jung, aber erste Daten deuten darauf hin, dass Kreatin helfen kann, die zelluläre Energiepufferung zu verbessern.Gerade im Gehirn scheint es dabei zu helfen, die synaptische Aktivität aufrechtzuerhalten. Auch in der Praxis berichten einige meiner Long-Covid-Patienten nach 3–4 Wochen Einnahme von verbesserter Denkleistung, besserer Belastbarkeit und weniger Crashs nach Aktivität. Wichtig ist hier: Kreatin ist kein Ersatz für Therapie, aber ein Baustein im Gesamtkonzept.
Kognitive Leistung, Depression und Motivation: Energie für das zentrale Nervensystem
Was viele nicht wissen: Kreatin wirkt nicht nur im Muskel, sondern auch im Gehirn. Die Kreatinphosphatpuffer spielen auch dort eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung neuronaler Prozesse. In Studien mit depressiven Patienten oder bei bipolarer Störung zeigte sich, dass Kreatin die Stimmungslage verbessern und kognitive Funktionen stabilisieren kann. Für mich als Therapeut ergibt sich daraus ein weiterer Einsatzbereich:Menschen mit kognitiver Ermüdung nach Burnout, Depression oder neurologischen Erkrankungen können durch Kreatin unterstützende Effekte erfahren – nicht als Ersatz für psychotherapeutische Maßnahmen, aber als stofflicher Beitrag zur neuronalen Energiebalance.
Dosierung und Anwendung – einfach, sicher, effizient
Ich empfehle klassisches Kreatinmonohydrat – ohne Zusätze, geschmacksneutral, gut löslich. Die Dosierung liegt bei 3–5 g täglich. Eine Ladephase ist für therapeutische Zwecke nicht nötig. Wichtig ist die regelmäßige Einnahme – idealerweise mit einer Mahlzeit. In seltenen Fällen kann es zu Verdauungsbeschwerden kommen, was sich meist mit mehr Flüssigkeit oder kleineren Portionen lösen lässt.Für gesunde Menschen ist Kreatin eines der am besten untersuchten und sichersten Supplemente überhaupt. Lediglich bei Niereninsuffizienz oder sehr hohem Blutdruck sollte Rücksprache mit dem Arzt gehalten werden – rein vorsorglich.
Kreatin gehört in die therapeutische Werkzeugkiste
Für mich als Physiotherapeut ist Kreatin kein Lifestyleprodukt, sondern ein durch und durch funktioneller Stoff. Es unterstützt den Muskelerhalt, beschleunigt den Wiederaufbau, hilft bei Energiedefiziten und verbessertin vielen Fällen die Selbstwirksamkeit meiner Patienten. Es ist günstig, sicher und wissenschaftlich gut dokumentiert. Wer es klug einsetzt, kann viel bewirken – nicht nur im Muskel, sondern im Alltag, in der Psyche und im Kopf. Und genau das macht den Unterschied zwischen bloßer Bewegung und echter Therapie.
(Pic: Andrea Piacquadio Pexels)