• Alzheimer vorbeugen – was wir als Physiotherapeuten wirklich tun können

    In der täglichen physiotherapeutischen Praxis begegnet uns Alzheimer nicht erst, wenn die Diagnose schwarz auf weiß vorliegt. Oft spüren wir die ersten Anzeichen in der Art, wie Patient:innen sich bewegen, Aufgaben umsetzen oder mit uns kommunizieren. Alzheimer ist keine rein genetische Laune des Schicksals, sondern ein Prozess, der über Jahre hinweg schleichend im Körper beginnt – und von Kopf bis Fuß spürbar ist. Genau da liegt unser Ansatz: Prävention. Und zwar nicht als Buzzword, sondern als reale therapeutische Handlungsmöglichkeit.

    Wenn das Gehirn langsamer wird – was Alzheimer auslöst

    Alzheimer entsteht nicht einfach „irgendwann“, sondern ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Zusammenspiels aus Alterungsprozessen, Entzündung, Gefäßschäden und einer Art innerer Energiekrise im Gehirn. Genetische Risikofaktoren wie das ApoE4-Gen erhöhen die Wahrscheinlichkeit – aber sie sind nicht der alleinige Grund. Viel entscheidender ist die Frage: Wie lebt ein Mensch? Wie bewegt er sich, wie schläft er, wie ernährt er sich? Denn das Gehirn ist auf stabile Versorgung angewiesen – mit Sauerstoff, mit Glukose, mit Nährstoffen. Und genau hier setzt unser Blick an.

    Bewegung ist mehr als Mobilisation – sie schützt das Gehirn

    Regelmäßige körperliche Aktivität ist der stärkste modulierbare Faktor gegen Alzheimer. Bewegung verbessert die Durchblutung, fördert die Neuroplastizität, senkt Entzündungswerte und hält Insulin- sowie Blutfettwerte in Schach. Studien zeigen, dass moderate Ausdauerbelastung – etwa zügiges Gehen oder Radfahren – die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus anregt. Auch Koordinationstraining, Gleichgewichtsübungen und dual-task-Ansätze können bei älteren Patient:innen erstaunliche Effekte zeigen. Nicht nur, weil die Sturzgefahr sinkt – sondern weil das Gehirn dabei gefordert wird, neue Verschaltungen zu bilden.

    Schlaf – das glymphatische System als Detox für den Kopf

    Was viele unterschätzen: Im Tiefschlaf entgiftet sich das Gehirn aktiv über das sogenannte glymphatische System. Werden Tiefschlafphasen dauerhaft gestört – durch Stress, unregelmäßige Zeiten oder Alkohol –, sammelt sich Amyloid-β im Gehirn an. Das ist jener Stoff, der in Alzheimer-Patient:innen als toxische Plaques identifiziert wird. In der Beratung sollten wir daher nicht nur nach Rückenlage oder Seitenlage fragen, sondern gezielt den Schlafrhythmus hinterfragen und auf gesunde Schlafhygiene hinweisen.

    Ernährung – kein Ernährungsthema ist so sehr Nervensache

    In der Therapie sprechen wir selten offen über die Ernährung – doch genau das sollten wir tun. Eine mediterran geprägte Kost, reich an Omega-3-Fettsäuren, polyphenolreichen Pflanzenstoffen, Gemüse, Beeren, Nüssen und gesunden Fetten, schützt das Gehirn. Gerade für ältere Menschen mit chronischen Entzündungsprozessen oder metabolischem Syndrom ist die Umstellung kein Wellness-Gimmick, sondern eine medizinisch sinnvolle Intervention. Besonders interessant: Ein gestörtes Mikrobiom – etwa nach Antibiotikatherapie – kann über die Darm-Hirn-Achse das zentrale Nervensystem beeinflussen und Entzündungen verstärken.

    Zucker, Insulin und das Gehirn – ein unterschätzter Zusammenhang

    Alzheimer wird in der aktuellen Forschung auch als „Typ-3-Diabetes“ bezeichnet. Das klingt provokant – ist aber biochemisch nachvollziehbar. Wenn die Insulinrezeptoren im Gehirn nicht mehr richtig reagieren, wird die Energieversorgung der Nervenzellen gestört. Die Folge: Degeneration. Gerade bei bewegungsarmen Menschen mit Prädiabetes oder Typ-2-Diabetes ist es wichtig, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Intervallfasten, Reduktion von Industriezucker und körperliche Aktivierung sind keine Lifestyle-Tipps, sondern neuroprotektive Maßnahmen.

    Mund und Darm – unterschätzte Risikozonen

    Entzündungen sind ein zentraler Treiber neurodegenerativer Erkrankungen – und zwei der größten Entzündungsherde sitzen oft still: im Mundraum und im Darm. Parodontitis, ein stiller, aber chronischer Entzündungszustand des Zahnfleischs, steht in Studien in Zusammenhang mit einem erhöhten Alzheimer-Risiko. Gleiches gilt für das sogenannte Leaky-Gut-Syndrom, bei dem eine durchlässige Darmwand systemische Entzündungsprozesse befeuert. Als Therapeuten dürfen wir diese Zusammenhänge nicht bagatellisieren, sondern sollten gezielt zur interdisziplinären Abklärung motivieren.

    Mentale Aktivität – keine Frage des Alters, sondern der Gewohnheit

    "Wer rastet, der rostet“ – dieser Spruch gilt nicht nur für den Körper, sondern auch fürs Gehirn. Wer sich geistig fordern will, muss nicht Sudoku lösen oder Latein lernen. Es reicht oft, wenn neue Bewegungsabfolgen eingeübt werden, wenn Handlungsanweisungen in andere Sprachebenen übertragen werden oder wenn in der Therapie Denk- und Bewegungseinheiten kombiniert werden. Auch hier ist dual-task ein wertvolles Instrument.

    Sozialer Rückzug ist pathologisch – nicht normal

    Viele ältere Menschen ziehen sich mit zunehmender kognitiver Unsicherheit zurück. Dieser Rückzug verschärft aber die Problematik. Wer nicht mehr spricht, nicht mehr diskutiert, nicht mehr reflektiert, verliert kognitive Reserven. Daher ist soziale Aktivität keine „private Entscheidung“, sondern ein gesundheitlich relevanter Faktor, den wir therapeutisch ansprechen müssen. Gruppentrainings, gemeinsames Kochen oder Bewegung in Kleingruppen sind therapeutisch viel effektiver als reine Einzelbetreuung.

    Prävention ist nicht Kür – sie ist Pflicht

    Wir als Physiotherapeut:innen stehen oft frühzeitig im Kontakt mit Menschen, deren kognitive Leistungsfähigkeit nachlässt – lange bevor eine neurologische Diagnose gestellt wird. Unsere Aufgabe besteht nicht nur im Behandeln, sondern auch im Erkennen und Ansprechen von Risikofaktoren. Wenn wir präventiv wirken wollen, dann nicht mit abschreckenden Diagnosen – sondern mit gezielter Aufklärung, machbaren Empfehlungen und dem Mut, auch mal über den Bewegungsteller hinauszuschauen.

    Denn das Gehirn lässt sich trainieren. Genau wie der Körper. Und zwar ein Leben lang.