Es gibt Dinge, die fallen uns Therapeutinnen und Therapeuten nicht sofort auf. Ein leicht veränderter Gang, eine stockende Koordination, eine plötzliche Unsicherheit bei Bewegungsabläufen, die früher selbstverständlich waren. Im Alltag nennen wir das oft altersbedingt, unspezifisch oder neuromuskulär vermindert. Doch genau hier beginnt das Problem. Denn was, wenn diese scheinbar harmlosen Veränderungen frühe Warnsignale sind? Was, wenn Alzheimer nicht erst mit 75 beginnt, sondern mit 45? Und was, wenn sein Ursprung nicht ausschließlich im Gehirn liegt, sondern an einer Stelle, die in der klassischen Prävention fast vollständig übersehen wird – im Mund?
Als Physiotherapeut begegnet mir dieses Thema nicht theoretisch, sondern praktisch. Menschen kommen in die Behandlung, weil sie sich unsicher fühlen, weil Bewegungen nicht mehr fließen, weil sie das Gefühl haben, „nicht mehr ganz da zu sein“. Für die Neurologie ist das oft noch nicht greifbar. Für uns in der Bewegungstherapie jedoch sehr wohl. Genau hier beginnt eine Verantwortung, die über klassische Muskel- und Gelenkarbeit hinausgeht.
Parodontitis – die unsichtbare Entzündung mit Hirnfolgen
Neuere wissenschaftliche Arbeiten zeigen einen Zusammenhang, der lange unterschätzt wurde. Das Bakterium Porphyromonas gingivalis, bekannt als Hauptverursacher chronischer Parodontitis, wurde in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten nachgewiesen. Und zwar nicht zufällig oder als Begleiterscheinung, sondern aktiv beteiligt an der Pathologie. In Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass P. gingivalis die Bildung von Amyloid-Beta fördert – jenem Protein, das als zentraler Biomarker der Alzheimer-Erkrankung gilt.
Der Infektionsweg ist dabei besonders relevant. Chronische Entzündungen im Mundraum führen zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke. Gelangen bakterielle Bestandteile in den Blutkreislauf, können sie diese Schwachstellen nutzen, um ins Gehirn einzuwandern. Dort setzen sie sogenannte Gingipaine frei, Enzyme, die Nervenzellen schädigen, Entzündungsprozesse verstärken und neurodegenerative Mechanismen anstoßen. Dieser Prozess ist leise, langsam und für Betroffene lange nicht spürbar – für das Nervensystem jedoch hochrelevant.
Als Physiotherapeut macht mich das hellhörig. Denn viele meiner Patientinnen und Patienten, auch deutlich unter 60, berichten über diffuse kognitive Veränderungen. Termine werden vergessen, Bewegungen wirken weniger sicher, Reaktionszeiten verlängern sich. Nichts davon ist per se pathologisch. Aber im Kontext chronischer Entzündung ergibt sich ein anderes Bild.
Alzheimer beginnt früher – und er beginnt still
Die moderne Forschung ist sich zunehmend einig: Alzheimer ist keine klassische Alterskrankheit, sondern eine chronisch-progrediente Erkrankung, deren pathologische Prozesse Jahrzehnte vor der klinischen Diagnose beginnen. Während Angehörige sich noch wundern, dass jemand vergesslicher wird, sind neuroinflammatorische Prozesse im Gehirn oft bereits seit zwanzig Jahren aktiv.
Diese zeitliche Diskrepanz ist entscheidend. Denn sie erklärt, warum medikamentöse Therapien so häufig enttäuschen. Wenn Nervenzellen bereits über Jahre geschädigt wurden, ist es zu spät für Reparatur. Prävention muss daher viel früher ansetzen. Und genau hier kommt der physiotherapeutische Blick ins Spiel. Wir sehen keine MRT-Bilder. Wir sehen Bewegung. Und Bewegung ist ein hochsensibler Indikator für neuronale Steuerung.
Die neuen Erkenntnisse rund um P. gingivalis verschärfen diese Perspektive. Sie zwingen uns, Prävention nicht mehr erst im hohen Alter zu denken, sondern im mittleren Lebensabschnitt. Und sie zeigen, dass neurodegenerative Prozesse nicht isoliert im Gehirn entstehen, sondern Teil systemischer Entzündungsprozesse sind.
Was hat der Mund mit dem Gehirn zu tun?
Mehr, als lange angenommen wurde. Die Mundhöhle ist eine der größten Kontaktflächen des Körpers mit der Außenwelt. Sie ist Eintrittspforte für Mikroorganismen und gleichzeitig ein Spiegel chronischer Entzündung. Parodontitis betrifft laut epidemiologischer Daten etwa jeden zweiten Erwachsenen über 35. Sie verläuft oft schmerzfrei, aber keineswegs harmlos.
Chronische Zahnfleischentzündungen führen zu einer dauerhaften Aktivierung des Immunsystems. Zytokine, bakterielle Toxine und Entzündungsmediatoren gelangen in den systemischen Kreislauf. Dieser Zustand niedriger, aber permanenter Entzündung gilt heute als einer der zentralen Risikofaktoren für neurodegenerative Erkrankungen. Wenn P. gingivalis die Blut-Hirn-Schranke überwindet, wird aus einem lokalen Zahnproblem ein zentrales Nervensystemproblem.
Für die Physiotherapie bedeutet das einen Paradigmenwechsel. Wir dürfen Entzündung nicht mehr nur als orthopädisches Begleitphänomen betrachten, sondern als systemischen Einflussfaktor auf Motorik, Koordination und Kognition.
Physiotherapie als Frühwarnsystem
Die klassischen Alzheimer-Frühzeichen wie Wortfindungsstörungen oder Orientierungsprobleme treten vergleichsweise spät auf. Viel früher zeigen sich subtile Veränderungen, die im therapeutischen Alltag auffallen. Bewegungen verlieren ihre Automatisierung, Übergänge werden unsicher, Gleichgewichtsreaktionen verzögern sich. Diese Symptome sind schwer zu messen, aber leicht zu beobachten – wenn man hinschaut.
Physiotherapeuten sehen ihre Patientinnen und Patienten regelmäßig in Bewegung. Wir beobachten Gangmuster, Reaktionsfähigkeit, Anpassung an neue Aufgaben. Genau deshalb können wir frühe Hinweise erkennen, die anderen Disziplinen entgehen. Inzwischen frage ich bei entsprechenden Beobachtungen gezielt nach Mundgesundheit. Gibt es Zahnfleischbluten? Wurde eine Parodontitis diagnostiziert? Wann war der letzte Zahnarztbesuch?
Diese Fragen sind ungewohnt, aber sie öffnen Türen. Sie führen zu Gesprächen über Prävention, Verantwortung und Zusammenhänge. Und sie ermöglichen frühe Intervention, lange bevor neurologische Diagnostik greift.
Interdisziplinarität ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit
Die Erkenntnisse rund um P. gingivalis fordern neue Netzwerke. Zahnärzte, Allgemeinmediziner, Physiotherapeuten und Neurologen dürfen nicht länger in getrennten Systemen arbeiten. Wenn Alzheimer durch bakterielle Infektionen mitverursacht werden kann, dann gehört Mundgesundheit in jede ernsthafte Präventionsstrategie.
Physiotherapie kann hier eine vermittelnde Rolle einnehmen. Wir haben Zeit. Wir haben Kontakt. Und wir erleben funktionelle Veränderungen früh. Das verpflichtet. Prävention bedeutet in diesem Kontext nicht Diagnosestellung, sondern Sensibilisierung. Hinweise geben, Zusammenhänge erklären, Weiterleitung ermöglichen.
Alzheimer ist kein reines Schicksal
Natürlich entsteht Alzheimer nicht allein durch Parodontitis. Genetische Faktoren, Schlafmangel, chronischer Stress, Bewegungsmangel und Ernährung spielen ebenfalls eine Rolle. Doch die Vorstellung, dass eine vermeidbare, chronische Infektion im Mund Jahrzehnte später das Gehirn schädigt, ist wissenschaftlich fundiert.
Und sie führt zu einer unbequemen Erkenntnis: Prävention beginnt nicht im Labor und nicht mit Medikamenten. Sie beginnt mit Aufmerksamkeit. Mit Zahnpflege. Mit interdisziplinärem Denken. Mit der Bereitschaft, scheinbar kleine Hinweise ernst zu nehmen.
Ich bin kein Zahnarzt. Ich bin kein Neurologe. Ich bin Physiotherapeut. Aber ich sehe, was der Körper früh kommuniziert. Parodontitis ist kein lokales Zahnproblem. Sie ist ein systemischer Risikofaktor für neurodegenerative Erkrankungen. Wer heute seine Mundgesundheit ignoriert, könnte morgen kognitive Fähigkeiten verlieren, die für ein selbstbestimmtes Leben entscheidend sind.
Alzheimer beginnt nicht im Alter. Es beginnt im Alltag. Und vielleicht – am Zahnfleischrand.
Studienlage und wissenschaftliche Einordnung
Die beschriebenen Zusammenhänge basieren auf einer wachsenden Zahl experimenteller und klinischer Studien. Dazu zählen Arbeiten, die den Einfluss von Porphyromonas gingivalis auf die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke untersuchen, sowie histopathologische Analysen, die das Bakterium in Alzheimer-Gehirnen nachweisen. Tiermodelle zeigen, dass eine chronische orale Exposition zu neuroinflammatorischen Veränderungen und Amyloid-Beta-Produktion führen kann. Übersichtsarbeiten betonen den Zusammenhang zwischen systemischer Entzündung, Infektion und neurodegenerativen Erkrankungen und unterstreichen die Bedeutung interdisziplinärer Präventionsstrategien.
